Die Alten Pflichten von 1723 im Jahre 2017

Die Verfassung unserer Großloge entstand auf der Grundlage der Alten Pflichten von 1723. So heißt es in der Präambel zu dieser Verfassung. Der Text ist also prägend für unsere Auffassung von Freimaurerei. Darum lohnt es meines Erachtens, sich ihn genauer anzusehen.

 

Die „Alten Pflichten von 1723“ sind die erste Verfassung der vor fast genau 300 Jahren gegründeten „Großloge von London und Westminster“[1], der ersten Großloge überhaupt, aus der die heutige „Vereinigte Großloge von England“ hervorgegangen ist. Das Thema passt also gut auch in das Jubiläumsjahr. Im Folgenden will ich untersuchen, was der Originaltext zu seiner Zeit bedeutet hat und was er meiner Meinung nach heute für uns bedeutet.

Für alle programmatischen Schriften gilt, dass man, um sie recht zu verstehen, sie in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und gegebenenfalls auch religiösen Umfeld sehen muss. Wenn ein fast 300 Jahre alter Text, der noch dazu in einer Fremdsprache geschrieben ist, für uns heute noch prägend sein soll, genügt es nicht, die Wörter in ihrer damaligen Bedeutung zu verstehen, sondern man muss auch die wichtigen Aussagen in unser heutiges gesellschaftliches, politisches und auch religiöses Umfeld übertragen.

Von den „Alten Pflichten“ gibt es verschiedene Übersetzungen, z. B. in der noch von Br. Theodor Vogel herausgegebenen „Freimaurerischen Schriftenreihe“ eine Übersetzung von Br. Karl Roeder, leider ohne Jahresangabe. Auch im Internationalen Freimaurerlexikon von Lennhoff/Posner/Binder[2] steht im Vorwort ein Artikel über die „Alten Pflichten“ mit einer Übersetzung.

Heute ist in unserer Großloge die in der vom Bauhütte Verlag vertriebene Ausgabe verbreitet. Sie enthält den Originaltext und eine Übersetzung, die auf Beschluss des Großlogentages von 1965 angefertigt und 1966 herausgegeben wurde. Mit dieser Übersetzung gehe ich im Folgenden kritisch um:

 

  1. Von Gott und der Religion

 

Der erste Satz in diesem Absatz handelt zwar noch nicht von Gott und der Religion, er enthält aber zwei fundamentale Aussagen über die Freimaurerei. Hier wird nämlich erstens gesagt, worin die wichtigste Pflicht der Freimaurer besteht, und zweitens, wer nicht Mitglied des Bundes sein kann.

In der oben genannten Übersetzung heißt es: „Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen…“. Ich finde, der Ausdruck „Sittengesetz“ ist eine treffende Übersetzung des englischen „moral Law“.

 

Was hat es mit diesem Sittengesetz auf sich?

Es wird u. a. im Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland genannt, wo es heißt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Das Grundgesetz stellt also das Sittengesetz neben die verfassungsgemäße Ordnung, also neben die staatlichen Gesetze.
Das Sittengesetz ist laut online-Rechtslexikon[3] „die Summe derjenigen sittlichen Normen, die die Allgemeinheit als richtig anerkennt und als für das menschliche Zusammenleben verbindlich ansieht.“ Ich denke, wir können alle zustimmen, dass dies auch die Pflicht eines jeden Freimaurers ist.

Was aber bedeutet es, dass der Maurer als Maurer dazu verpflichtet ist? Im Originaltext heißt es: „A Mason is oblig’d, by his Tenure, to obey the moral Law; …“ „Tenure“ heißt auf Deutsch „lebenslange Anstellung“. An nordamerikanischen Universitäten gibt es für Professoren die Laufbahn des „tenure track“. Sie führt schließlich zur Lebenszeitprofessur. Der erste Satzteil bedeutet auf Deutsch also: „Der Freimaurer ist durch seine lebenslange Verpflichtung (zum Freimaurer) daran gebunden, dem Sittengesetz zu gehorchen.“ Hier ist also im Zusammenhang mit seiner wichtigsten Pflicht im ersten Satz auch gesagt, dass der Freimaurerbund auf Lebenszeit angelegt ist.

 

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, welche zentrale Bedeutung das Sittengesetz für uns hat: Bei unseren rituellen Arbeiten liegen die drei großen Lichter der Freimaurerei auf: Das Buch des Heiligen Gesetzes, das Winkelmaß und der Zirkel. Bei diesem Buch handelt es sich aus Gründen der Tradition materiell um eine Bibel. Das Buch liegt dort aber nicht als Symbol für ein religiöses Bekenntnis oder wegen der zahlreichen darin aufgeführten Einzelgesetze, sondern als Symbol für das Heilige Gesetz, nämlich für das eben genannte Sittengesetz. Darum sprechen wir vom Buch des Heiligen Gesetzes und nicht etwa vom Buch der heiligen Gesetze.

 

Weiter im Text wird gesagt, wer nicht Freimaurer sein kann: „… and if he rightly understands the Art, he will never be a stupid Atheist, nor an irreligious Libertine.“ Die Übersetzung von 1966 lautet: „…und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein bindungsloser Freigeist sein.“

Stupid Atheist“ (der nicht Freimaurer sein kann) würde ich nicht mit „engstirniger Gottesleugner“, sondern schlicht mit „dummer Atheist“[4] übersetzen. Wer nach intensiver Beschäftigung mit dem Thema sich Gott nicht so vorstellt, wie die Religionsgemeinschaften es lehren, sondern seine eigene Gottesvorstellung entwickelt hat, ist kein dummer Atheist. Er kann meiner Meinung nach sehr wohl Freimaurer sein. Nach meiner persönlichen Erfahrung aus Gesprächen mit Interessenten und Suchenden entpuppen sich nämlich die meisten gebildeten Menschen, die sich selbst als Atheisten bezeichnen, bei näherer Bekanntschaft als Agnostiker, die auf die Frage, ob es Gott gibt, z.B. antworten: „Die Frage kann man nicht beantworten.“[5]
Das griechische Wort ἄθεος heißt wörtlich „ohne Gott“. Der Buddhismus kennt keinen Schöpfergott. Ein Buddhist ist aber kein dummer Atheist. Er kann selbstverständlich Freimaurer sein.
Kant lehrt, dass man alle Sittlichkeit von der Vernunft herleiten kann.[6] Man kann Sittlichkeit ebenso gut aus der Religion herleiten, aber wer sein Leben nach Kants Kategorischem Imperativ ausrichtet, erfüllt die Forderung nach Sittlichkeit, er gehorcht dem Sittengesetz, und wie wir eingangs gesehen haben, ist das die erste Pflicht des Freimaurers.

Auch die Übersetzung des „irreligious Libertine“ in der im Bauhütte-Verlag abgedruckten Fassung mit „bindungsloser Freigeist“ trifft m. E. nicht den Kern dessen, was 1723 gemeint war. Ein Freigeist[7] kann auch jemand sein, dessen Denken nicht durch religiöse Dogmen bestimmt ist, das aber auch zu moralisch richtigem, mindestens aber zu klugem Handeln führt. Auch ein solcher Freigeist kann m. E. sehr wohl Freimaurer sein.

 

Ein „irreligious Libertine“ im Wortverständnis des frühen 18. Jahrhunderts ist dagegen jemand, der nicht nur die Religion, sondern auch jede andere moralische Bindung und gesellschaftliche Verhaltensnorm als überflüssig oder nicht erstrebenswert ablehnt.[8] Der Marquis de Sade dürfte der bekannteste Vertreter einer solchen Geisteshaltung sein, die in Frankreich und England seinerzeit eine gewisse Popularität besaß. Solche Leute können also laut den Alten Pflichten keine Freimaurer sein.

 

Zum Verständnis des folgenden Satzes muss man sich vor Augen führen, in welcher historischen, religiösen und gesellschaftlichen Umgebung der Text entstand. Damals waren Politik und Krieg in der Regel eng mit Fragen der Religionszugehörigkeit verknüpft.

 

  • 1605 versuchten englische Katholiken, den protestantischen König James I. während der Parlamentseröffnung in die Luft zu sprengen, weil der die katholische Bevölkerung unterdrückte. (Das Scheitern des Anschlages wird heute noch an jedem 5. November als Guy Fawkes Day mit Feuerwerk gefeiert.)
  • Sein Nachfolger Charles I. (1625-49) war Katholik und wollte sich mit Rom versöhnen. Von 1642 bis 1649 herrschte Bürgerkrieg, der König wurde schließlich hingerichtet und Oliver Cromwell herrschte bis 1658 als Diktator.
  • Unter Charles II. (1660-85) wurde dann die Church of England wieder Staatskirche mit dem Monarchen als Kirchenoberhaupt. Theologisch war sie ein Mittelweg zwischen Katholiken und Puritanern.
  • 1666 war der große Brand von London (berühmtes Bild von William Turner „Brand des Westminster-Palastes). Die Schuld für das Großfeuer wurde Agenten des Papstes in die Schuhe geschoben, die angeblich auch schon die Pest 1664 – 1665 verursacht hatten. Auch damals gab es schon fake news.
  • 1678 bis 1681 wurde eine angebliche katholische Verschwörung aufgedeckt und verfolgt. 35 Unschuldige wurden hingerichtet.
  • Der nächste König James II. (1685-88) war zur Abwechslung wieder Katholik. In der Glorious Revolution wurde er abgesetzt. Nachfolger wurden gemeinsam seine Tochter Mary II. und ihr Gatte Wilhelm III. von Oranien, beide Protestanten.
  • 1689 beschloss das Parlament ein Toleranzgesetz, das Abweichlern von der Anglikanischen Kirche eingeschränkte Religionsfreiheit gewährte. Das galt natürlich nicht für Katholiken, Juden und Antitrinitaristen.

 

Das Jahrhundert vor der Gründung der Großloge von England und Westminster war also geprägt von den Schrecken der Bürgerkriege, von Streit zwischen Krone und Parlament, von Konflikten zwischen den Konfessionen, von Aufständen und von Kriegen zwischen England und Schottland und Irland. Mit diesem Hin und Her war meist auch der jeweilige Wechsel der offiziellen Staatsreligion verbunden, die je nach Konfession des Herrschers im Lande gerade galt.

 

Das ist also der Hintergrund dafür, wenn es in der genannten Übersetzung weiter heißt:

In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Lande zwar verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsamer, (d.h. … die Freimaurer hielten es für ratsamer…) sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu überlassen. Sie sollen also gute und redliche Männer sein, von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis, oder darauf, welche Überzeugungen sie sonst vertreten mögen.“
Es gibt aber gar keine Religion im deutschen Sinne des Wortes, in der alle Menschen übereinstimmen! Das wusste sicherlich auch der Autor, Reverend Dr. James Anderson.

Was kann er also gemeint haben?
Es kommt häufig vor, dass ein Wort einer Fremdsprache im Deutschen eine oder mehrere andere Bedeutungen hat, als es auf den ersten Blick erscheint.

 

So hat auch das englische Wort „religion“ weiter gefasste Bedeutungen als das deutsche, nur scheinbar identische Wort „Religion“[9]:

Religion“ kann auf Deutsch z. B. „Religiosität“ bedeuten, oder „Religion“ in unserem Sinn des Wortes, oder „Glaube“. „To enter religion“ bedeutet den unwiderruflichen Eintritt in ein Kloster. „Religion“ kann aber auch ohne jeden theologischen Zusammenhang bedeuten: „Etwas, das einem Menschen besonders am Herzen liegt“.

 

Im englischen Original der Alten Pflichten heißt es im Abschnitt „Concerning GOD and RELIGION“:

But though in ancient times Masons were charg’d in every Country to be of the Religion of that Country or Nation, whatever it was, yet ’tis now thought more expedient only to oblige them to that Religion in which all Men agree, leaving their particular Opinions to themselves; that is, to be good Men and true, or Men of Honour and Honesty, …“

Im englischen Original steht also ganz eindeutig, welche „Religion“ gemeint ist, in der alle Menschen übereinstimmen: „that is…“ gute und redliche Menschen zu sein.

 

Anderson verwendet also die verschiedenen Bedeutungen des englischen Wortes „religion“ hier im Sinne eines Wortspieles. Um das Wortspiel einigermaßen zu erhalten, würde ich hier übersetzen:

„Aber obwohl die Maurer in alten Zeiten in jedem Lande verpflichtet waren, dem jeweiligen Glauben des Landes oder Volkes anzugehören, hält man es heute für ratsamer, sie nur zu dem Glauben zu verpflichten, in dem alle Menschen übereinstimmen (während allen ihre eigenen Auffassungen selbst überlassen bleiben), nämlich daran, gute und redliche Menschen zu sein, (oder besser:) sein zu wollen, von Ehre und Anstand, …“

Demnach ist die Bedeutung dieser Aussage:

„Die Freimaurer sind nicht zu einem bestimmten religiösen Glauben oder Bekenntnis verpflichtet, sondern nur dazu, gute und redliche Männer von Ehre und Anstand sein zu wollen.“

Das ist meines Erachtens der Kern der humanitären Freimaurerei, das ist es, worauf es wirklich ankommt!

 

Ich schlage also folgende Übersetzung dieses Abschnittes der Alten Pflichten vor:

 

„I. Von Gott und der Religion

Der Freimaurer ist durch seine lebenslange Verpflichtung daran gebunden, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein dummer Atheist noch ein bindungsloser Mensch ohne sittlichen Maßstab sein. Aber obwohl die Maurer in alten Zeiten in jedem Lande verpflichtet waren, dem jeweiligen Glauben des Landes oder Volkes anzugehören, hält man es heute für ratsamer, sie nur zu dem Glauben zu verpflichten, in dem alle Menschen übereinstimmen (während allen ihre eigenen Auffassungen selbst überlassen bleiben), nämlich daran, gute und redliche Menschen sein zu wollen, von Ehre und Anstand, durch welche Bekenntnisse oder Glaubensrichtungen sie sich auch unterscheiden mögen. So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären.“

 

Zum Abschluss der ausführlichen Betrachtung des Abschnittes „Von Gott und der Welt“ möchte ich noch ein Wort zum einem zentralen Begriff der Freimaurerei sagen, nämlich dem „Großen Baumeister aller Welten“. Damit meinen wir in der humanitären Freimaurerei nicht etwa einen anderen Ausdruck für einen persönlichen Schöpfergott, dessen Wille den Menschen offenbart wurde. Der Glaube an einen solchen Schöpfergott wurde noch 1929 in den „Basic Principles for Grand Lodge Recognition“ der Vereinigten Großloge von England gefordert. Das waren die Hauptkriterien für die Anerkennung anderer Großlogen als regulär.

 

In den aktuellen „Basic Principles“ von 1989 wird dagegen nur noch der Glaube an ein „Supreme Being“ gefordert. Auch hierfür sind wieder verschiedene Übersetzungen ins Deutsche möglich. Ein Supreme Being kann ein höchstes Sein oder ein höchstes Wesen sein. Unser Verständnis ist folgendes: Die Freimaurer „sehen im Weltenbau, in allem Lebendigen und im sittlichen Bewusstsein des Menschen ein göttliches Wirken voll Weisheit, Stärke und Schönheit. Dieses alles verehren sie unter dem Sinnbild des Großen Baumeisters aller Welten.“ Unter dem Weltenbau ist m. E. das gesamte Universum mit seinen Hunderten Milliarden von Galaxien, dem Raum, der Zeit und der wunderbaren Harmonie der Naturgesetze und Naturkonstanten zu verstehen, wovon wir Menschen trotz aller Fortschritte der Naturwissenschaften erst sehr begrenzte Kenntnisse haben. Das gilt auch für das Wunder des Lebens auf unserem Planeten und wahrscheinlich auch auf vielen weiteren. Mit dem sittlichen Bewusstsein ist die erstaunliche Fähigkeit des Menschen gemeint, das Sittengesetz erfassen zu können.

 

Unter dieser Definition können sich Angehörige aller Religionen und anderen philosophischen Überzeugungen wiederfinden, jedenfalls soweit sie fähig sind, überhaupt etwas verehren zu können. Auf den Dreiklang von Weisheit, Stärke und Schönheit komme ich noch zurück.

 

Zurück zu den Alten Pflichten: Auf die Übersetzung der Abschnitte II. bis V. will ich nicht im Detail eingehen. Nur so viel:

 

Im Abschnitt II „Von den staatlichen Behörden“ wird der Maurer zu Friedensliebe und Gesetzestreue ermahnt. Interessant ist aber, dass, wenn ein Bruder zum Rebellen gegen den Staat wird, die Loge die Rebellion zwar nicht unterstützen darf, sie ihn aber nicht wegen der Rebellion aus der Loge ausschließen kann, wenn er nicht wegen einer anderen Straftat verurteilt ist. Seine Bindung an sie bleibt unauflöslich.

 

Im Abschnitt III „Von den Logen“ wird gesagt, dass jeder Freimaurer einer regulären Loge angehören müsse. An dieser Stelle wird noch einmal zusammengefasst, wer Freimaurer werden kann: Gute und treue Männer, frei geboren und von reifem und verständigem Alter und von gutem Ruf.

 

In den Abschnitten IV und V geht es um die Grade und um die Leitung der Logen und der Großloge.

Die Einteilung in die Grade Lehrling, Geselle und Meister war damals noch anders als heute.
Es gab in jeder Loge nur einen Meister. Aus dem Kreis der Gesellen wurden nach ihren persönlichen Verdiensten die beiden Aufseher gewählt, aus diesen der Meister der Loge, aus den Meistern der Logen wiederum die beiden Großaufseher der Großloge.

Der Großmeister musste Geselle gewesen sein (also nicht Meister einer Loge), außerdem von Adel oder ein herausragender Gentleman oder ein bedeutender Wissenschaftler oder berühmter Architekt oder sonst ein Künstler. Er konnte sich dann einen Stellvertreter selbst auswählen, der allerdings Stuhlmeister gewesen sein musste. Diese Regeln sind von einem gewissen historischen Interesse, wir sollten aber bei unseren heutigen, bewährten und international üblichen Regeln bleiben.

 

  1. Vom Betragen – nämlich 
  2. In geöffneter Loge          


In diesem Teilabschnitt steht, wie man sich in einer rituellen Arbeit zu betragen hat: Man soll ehrerbietig sein gegenüber dem Meister, den Aufsehern und den Gesellen. Fellows wird übrigens in der genannten Ausgabe mit „Genossen“ übersetzt; es müsste stattdessen „Gesellen“ heißen.

Bei internen Klagen und Beschwerden entschied damals die gesamte Loge, nicht – wie heute – ein Ehrengericht. Gegen Entscheidungen der Loge konnte die Großloge angerufen werden. Heute haben wir eine ausdifferenzierte vereinsinterne Ehrengerichtsbarkeit mit einer komplexen Verfahrensordnung.

 

  1. Nach geschlossener Loge, wenn die Brüder noch beisammen sind.        

Die in diesem Teilabschnitt genannten Grundsätze gelten heute auch für Zusammenkünfte ohne rituelle Arbeit, z.B. für ein brüderliches Beisammensein.

Zunächst wird sinngemäß gesagt, dass man nach der rituellen Arbeit fröhlich seinen Spaß haben und auch einen ausgeben kann, aber nicht zu viel essen und trinken soll. Geselligkeit ist also nach dieser Regel durchaus Teil der Freimaurerei.

Man soll auch nichts tun und sagen, das verletzen oder eine ungezwungene und freie Unterhaltung unmöglich machen könnte. Hier wird also zu einer Gesprächskultur aufgerufen, zu einem gepflegten Meinungsaustausch. Über den weiteren Inhalt dieses Abschnittes sind aber allerlei Missverständnisse im Umlauf. Selbst in Stellungnahmen gegenüber der Öffentlichkeit ist manchmal die Auffassung zu hören, dass in den Logen nicht über Religion und Politik gesprochen werden dürfe.

Diese Auffassung ist m.E. falsch.

Im nächsten Satz heißt es, es dürften „keine persönlichen Kränkungen (nicht etwa bloß „Sticheleien“, wie es in der Übersetzung heißt) und Auseinandersetzungen und erst recht keine Streitgespräche über Religion, Nation und Staatspolitik in die Loge getragen werden“.

 

Wie eingangs geschildert waren seinerzeit im Königreich Großbritannien (seit 1707 England, Wales und Schottland) die Themenbereiche Religion, Nation und Staatspolitik vergiftet. Deshalb waren in den Logen Streitgespräche darüber verboten. Dabei hatten die Begriffe Nation und Staatspolitik damals andere Inhalte als heute. Der Begriff Nationalstaat war noch gar nicht erfunden. Wie wir eingangs gehört haben, waren Politik und Religionszugehörigkeit noch untrennbar miteinander verbunden.

 

Die Begründung, die Reverend Anderson liefert, lautet in der oben genannten Übersetzung: „… als (Frei-)Maurer gehören wir nämlich nur der allgemeinen Religion an, von der schon die Rede war …“ Im Originaltext steht hier der Ausdruck „Catholick Religion“. Damit ist nicht etwa die katholische Religion gemeint, sondern das Wort „Catholick“ wird hier in seinem ursprünglichen griechischen Wortsinn verwendet: von griechisch καθολικός katholikós‚ umfassend / allgemein. Anderson sagt also auch in diesem Abschnitt, der allgemeine Glaube der Freimaurer bestehe darin, gute und redliche Menschen von Ehre und Anstand sein zu wollen.

 

Weiter schreibt er: „… außerdem findet man unter uns alle Völker, Zungen, Abstammungen und Sprachen, und wir wenden uns entschlossen gegen alle „Politicks“, die noch niemals zum Wohle der Loge beigetragen haben und es auch niemals tun werden.“

Das Wort Politick hatte seinerzeit die Bedeutung „engaging in partisan political activity[10] also Parteipolitik und bezieht sich in diesem Zusammenhang offenbar auf die damaligen oft gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien mit ihren jeweiligen religiösen Bekenntnissen in Großbritannien.

 

Darüber also soll in der Loge nicht gestritten werden. Anderson fährt fort: „Diese Pflicht wurde schon immer streng eingeschärft und befolgt, besonders aber seit der Reformation in Britannien[11] oder seit dem Abfall dieser Nationen (England, Wales und Schottland) von der Gemeinschaft mit Rom“. Auch dieses Beispiel zeigt, wie eng damals Politik und Religion miteinander verknüpft waren. Mit „Reformation in Britannien“ war nämlich nicht das gemeint, was wir im Luther-Jahr 2017 unter Reformation verstehen. Die Begriffe „Reformation in Britannien“ und „Abfall von Rom“ in den Alten Pflichten beziehen sich darauf, dass 1531 die englischen Bischöfe die Autorität des Papstes im Königreich nicht länger anerkannten, weil Papst Clemens VII. sich weigerte, eine Ehe von König Henry VIII. zu annullieren.

 

Heute aber haben wir einen völlig anderen, viel weiteren Politikbegriff: Wir sprechen z. B. von Außenpolitik, Innenpolitik, Sozialpolitik, Sicherheitspolitik, Wirtschaftspolitik, Integrationspolitik u. s. w.           (Wikipedia nennt 36 solche Sachgebiete.)
Selbstverständlich kann und soll man in der Loge über politische Themen im heutigen Sinne sprechen, so lange man sich nicht streitet.

Humanitäre Freimaurerei setzt Bildung voraus, setzt den Diskurs über gesellschaftliche Themen voraus. Solche Themen sind nicht die Politicks, die vor 300 Jahren in den Logen nur Unfrieden verursacht hätten und deshalb zu Recht verboten waren.

Heute gehört zum Logenleben unverzichtbar die Kommunikation, der Diskurs.

Dazu gehört im sogenannten „postfaktischen Zeitalter“ auch der kritische Umgang mit den Begriffen „Wahrheit“ und „Fakten“. Wir wissen, dass es absolute Wahrheit nicht gibt. Auch wissenschaftliche Erkenntnis gilt immer nur bis zur nächsten, besseren Erkenntnis. Auch alle sogenannten Fakten sind jeweils nur subjektive und niemals vollständige Beschreibungen der Wirklichkeit.

 

Wenn die Loge funktioniert, gibt es darin eine Diskussionskultur, in der man zuhört, andere Meinungen gelten lässt und auf diese Weise davon profitiert. Dabei geht es nicht nur um den Austausch von Informationen. Informationen aller Art sind im digitalen Zeitalter in nie geahnten Mengen fast überall und jederzeit verfügbar. Es kommt darauf an, die unübersichtliche Vielfalt der Informationen zu Erkenntnissen zu verdichten. Der Erkenntnis kann man sich aber nur nähern, wenn man zuhört und unterschiedliche Meinungen zur Kenntnis nimmt. In der Loge kommen Männer mit verschiedenen beruflichen Hintergründen, Bildungsständen, Lebenserfahrungen, Interessen, Meinungen u. s. w. zusammen, und sie sind sich darüber einig, dass die Gespräche vertraulich sind und nichts von dem Gesagten nach außen dringt.

 

Lessing wusste das im Prinzip schon, als er vom „laut Denken mit dem Freunde“ schrieb. Heinrich von Kleist beginnt sein kluges Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ mit den Worten: „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen.“

Gespräche mit den Brüdern sind m. E. zeitgemäße Persönlichkeitsentwicklung. Das ist – mit anderen Worten – Arbeit am rauen Stein.

 

Die Regeln, nach denen solche Gespräche geführt werden sollen, stehen bereits im zweiten Artikel der Verfassung unserer Großloge:

In Achtung vor der Würde jedes Menschen treten sie ein für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und für Brüderlichkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu.“

Es folgt im zweiten Artikel der Verfassung ein weiterer wichtiger Grundsatz:

Glaubens- Gewissens- und Denkfreiheit sind den Freimaurern höchstes Gut. Freie Meinungsäußerung im Rahmen der Freimaurerischen Ordnung ist Voraussetzung freimaurerischer Arbeit.

Wohlgemerkt: Glaubens- Gewissens- und Denkfreiheit sind den Freimaurern höchstes Gut. Das heißt, dass es für sie kein höheres Gut gibt!

Dieser Grundsatz gilt für das Logenleben und er gilt auch, wenn man nach den Worten „Geht nun zurück in die Welt, meine Brüder, und bewährt euch als Freimaurer!“ die Loge verlasen hat. Was heißt denn Bewährung als Freimaurer? Bewährung ist nicht Theorie, sondern Lebenspraxis, und zwar jeder als Einzelner.

„Die Logen und die Großloge nehmen in konfessionellen oder parteipolitischen Angelegenheiten nicht Stellung.“[12] Sie gehen nicht hinaus in die Welt und bewähren sich. Sie haben in konfessionellen oder parteipolitischen Angelegenheiten keine Meinungen, nur die Brüder haben Meinungen – und zwar jeder seine eigene.

Für das Handeln des Freimaurers außerhalb der Loge erhält er jedes Mal bei der Öffnung und bei der Schließung der Tempelarbeit eine Lehre an Hand des Dreiklangs der Begriffe Weisheit, Stärke und Schönheit.

  • Weisheit ist das Wissen darum, welches Handeln das richtige ist.
    Ohne Weisheit ist Handeln schädlich.
  • Stärke ist der Wille und die Kraft zur Handlung, ohne die das Wissen Theorie bleibt.
  • Schönheit verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht nur als Ästhetik, sondern in weiterem Sinne als Harmonie.

Ich soll also wissen, was zu tun ist, ich soll es auch tun, und es soll nicht auf Kosten anderer geschehen.

Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die Alten Pflichten von 1723 sehr wohl zu einem zeitgemäßen Verständnis der humanitären Freimaurerei beitragen.

 

[1] Die Alten Pflichten von 1723, Verlag Die Bauhütte Bonn, 1994

[2] z.B. Ausgaben 2000 und 2006

[3] http://www.rechtslexikon.net/d/sittengesetz/sittengesetz.htm

[4] Laut Brockhaus Enyklopädie 1967 ist Atheismus eine humanistische Wortbildung des 16. Jahrhunderts

[5] Wikipedia, „Agnostizismus“:
„Agnostizismus ist eine Weltanschauung, die insbesondere die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens,
Verstehens und Begreifens betont. Die Möglichkeit der Existenz transzendenter Wesen oder Prinzipien wird
nicht bestritten. Agnostizismus ist sowohl mit Theismus als auch mit Atheismus vereinbar, da der Glaube an
Gott möglich ist, selbst wenn man die Möglichkeit der Gewissheit seiner Existenz verneint. Ebenso ist die
Auffassung, wonach atheistische Thesen wahrscheinlicher sind als theistische, mit dem Agnostizismus
vereinbar. Die Frage „Gibt es einen Gott?“ beantworten Agnostiker dementsprechend nicht mit „Ja“ oder „Nein“,
sondern mit „Ich weiß es nicht“, „Es ist nicht geklärt“ oder „Es ist nicht beantwortbar“.“

[6] Immanuel Kant, Übergang zur Metaphysik der Sitten, Suhrkamp Taschenbuch 1982, Band VII, Seite BA 34

[7] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Freigeist:
Freigeist (eine Lehnübersetzung von franz. esprit libre) ist eine im 18. Jahrhundert vor allem in der
deutschsprachigen Literatur und Publizistik verbreitete Bezeichnung für Vertreter einer Haltung, nach der das
Denken nicht von den traditionellen Sitten oder von den durch die offizielle Religion begründeten Moralnormen
und Denkverboten beschränkt werden dürfe. … Der freigeistigen Position zufolge sollte die Praxis des
unverbildeten Überlegens auch zu moralisch richtigem, mindestens aber zu klugem Handeln führen.
Bei Lessing, Kant und Nietzsche hat das Wort jeweils eine andere Bedeutung.

[8] Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Libertine

[9] Collins English Dictionary – Complete & Unabridged 10th Edition 2009, HarperCollins:

religion
1.            belief in, worship of, or obedience to a supernatural power or powers considered to be
divine or to have control of human destiny
(im Deutschen „Religiosität“)

  1. any formal or institutionalized expression of such belief: the Christian religion
    (im Deutschen „Religion“)
  2. the attitude and feeling of one who believes in a transcendent controlling power or powers (im Deutschen: „Glaube“)
  3. chiefly RC Church the way of life determined by the vows of poverty, chastity, and obedience entered upon by monks, friars, and nuns: to enter religion
    (im Deutschen „Profess“) 
  4. something of overwhelming importance to a person: football is his religion

 

[10] Quelle: thefreedictionary.com, politick

[12] Artikel 5 der Verfassung der Großloge A.F.u.A.M.v.D.

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